Freitagsimpuls zum 12. Oktober 2018
»Ich will mit dir nichts zu tun haben - du bist ein Nichtmuslim für mich!«
(Facebook-Kommentar)
Ablehnung ist - nicht nur im virtuellen Raum des Internets - allgegenwärtig. Sie basiert auf Vor(ver)urteil(ung), Oberflächlichkeit, Schubladendenken und die all dies verursachende Beeinflussung durch Gruppierungen, Medien und Politik. Wen wir ablehnen oder tolerieren ("dulden") oder akzeptieren wird innerhalb des Islams auch stark beeinflusst durch orthodoxe salafistisch oder wahabistisch geprägte Propaganda. Was aber ist denn eigentlich die Kernidee des muslimischen Glaubens zu diesem Thema?
Kennen
Wenn wir den Qur'an in seiner Gesamtheit betrachten, fällt uns auf, dass Allah immer wieder als allwissend bezeichnet wird. In vielen Versen wird Gottes Allwissenheit - über das was war und was ist und was sein wird - betont. Al-Aliim, der Allwissende, ist einer der vielen Namen Allahs. Diese Allwissenheit berührt viele weitere Themen, beispielsweise das Konzept des Freien Willens, der Vorbestimmung und auch die Idee des (für uns) (noch) verborgenen Wissens.
Allah weiß also alles über uns, durchdringt und durchschaut uns, weiß um unsere Gedanken und unsere Gefühle. Nichts bleibt vor Gott verborgen. Allah kennt uns. Vollständig.
... und Kennenlernen
Eingebettet in die stetige Erwähnung von Gottes Allwissenheit im Qur'an, fast schon umrahmt von all jenen Hinweisen, befindet sich zu unserer Rechtleitung durch Allah nun folgender Vers:
O ihr Menschen. Siehe. Wir haben euch ja aus einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiß, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottergebenste von euch. Gewiß, Allah ist Allwissend und Allkundig.
Wir sind also nicht nur Schöpfungsbewahrende und göttliche Stellvertreter auf Erden, sondern sollen einander kennenlernen. Und wenn wir den Auftrag zum Wissenserwerb ernstnehmen, so sind wir dadurch auch aufgefordert voneinander zu lernen.
Einander kennenlernen, voneinander lernen. Meiner Meinung nach eine klare Botschaft an uns.
Aber der Vers endet dort nicht. Allah weist im nächsten Satz darauf hin: "Gewiß, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottergebenste von euch." - und danach wird erneut auf die Allwissenheit Gottes hingewiesen.
Wir haben hier also eine enorm starke Betonung des Auftrags des gegenseitigen Kennenlernens. Denn mit dem Kennenlernen (und dem damit einhergehenden Wissenserwerb) tun wir das, was Allah sich von uns wünscht, ergeben wir uns in seine Wünsche, sind wir also gottergeben. Gibt es eine stärkere Aufforderung an uns, als auf diese Weise?
Wen sollen wir eigentlich kennenlernen?
Allah hat uns also aufgefordert, damit wir unsere Gottergebenheit leben und umsetzen können, einander kennenzulernen und voneinander zu lernen. Aber wen sollen wir genau kennenlernen, von wem genau sollen wir lernen?
Gucken wir uns den Vers nochmals genau an, dann wird es offenkundig: "O ihr Menschen" - Hier wird nicht von "Muslim*innen" oder "Freund*innen" oder "Leute der gleichen Denkart" gesprochen. Gott spricht alle Menschen an. Und alle Menschen werden aufgefordert, einander kennenzulernen. Alle Menschen.
Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir alle aufgefordert werden, Menschen kennenzulernen und von ihnen Wissen zu erwerben, wo wir sie treffen. Gott erwähnt nicht, dass wir Menschen nach irgendwelchen Kriterien aussuchen sollen, sondern Allah bezieht sich auf alle Menschen. Das mag willkürlich wirken auf uns, aber unter Berücksichtigung der Allwissenheit Gottes können wir darauf vertrauen, dass diese scheinbare Willkürlichkeit einen tieferen Sinn für unsere persönliche und gemeinschaftliche Entwicklung haben wird.
Wir werden also dazu angehalten, auch und gerade "über unseren Tellerrand hinauszublilcken", auch unangenehme Menschen und Meinungen kennenzulernen, vielfältige Erfahrungen zu machen. Damit steht uns die pauschale, oberflächliche Ablehnung von Menschen nicht mehr als hilfreiches Konzept zur Verfügung - wir müssen mit unseren Vorurteilen brechen, müssen völlig anders denkende und fühlende Menschen als Inspiration und Quelle möglichen Wissens annehmen.
Das bedeutet nicht, dass wir uns mit allen anderen Menschen freundschaftlich verbinden müssen. Aber wir müssen dennoch alle anderen Menschen als Gegenüber grundsätzlich respektvoll und unter Einhaltung der allgemeinen, gesellschaftlichen Umgangsformen behandeln.
Das beinhaltet also jeden andersgläubigen Menschen, jede*n Muslim*in anderer Strömungen, alle nichtgläubigen Menschen, Kranke, Alte, Verbrecher*innen, Homosexuelle (bzw. LGBTIQ*-Personen), "Sünder*innen", ... einfach: ALLE.
Dazu werden wir aufgefordert. Durch Allah. Indem wir dies tun, ergeben wir uns Gott(es Willen). Und wir werden alle Anderen, die uns begegnen kennenlernen. Und von ihnen lernen. Alhamdullillah.
Ω
[Bildnachweis: Ausschnitt aus https://pixabay.com/de/sternenhimmel-kirche-kapelle-kreuz-1246272/ ]